Im VfB Clubzentrum wird heute gefeiert, und zur musikalischen Untermalung der Party drängen sich Campino und die Toten Hosen mit ihrem Kulthit vom aus Köln gesehen anderen Rheinufer auf: „Hier kommt Alex.“ Denn Alexander Wehrle durchbricht die Schallmauer ins fortgeschrittene Alter – der VfB Vorstandschef wird Fünfzig.
Wer hätte das gedacht? Loni Braun am wenigsten. Für Loni war das Kapitel Wehrle und VfB schon vor zwölf Jahren ratzfatz erledigt. Im Januar 2013, da drohte sogar ein blutiges Ende. Noch heute weiß sie nicht, ob sie lachen oder weinen soll, so grässlich war jener Moment: Wie eine gesengte Sau stürmte Wehrle aus dem Büro des Präsidenten Gerd E. Mäuser, „und kreuznarret hat der Alex die Tür zugeknallt“ – mit einem zündenden Wort auf den Lippen.
„Das ist jetzt aber nichts zum Schreiben, gell“, mahnt mich Loni, „oder ist es verjährt?“ „Es ist verjährt“, beruhige ich sie. Loni Braun kennt alle, die beim VfB seit 1981 etwas zu sagen hatten. Damals wurde sie Chefsekretärin, der Präsident hieß Gerhard Mayer-Vorfelder, und wann immer ein lästiger Anruf kam, hat der Boss ihr kurz zugewinkt und sie verkündete untröstlich ins Telefon: „Tut mir leid, aber der Herr Minister ist im Landtag.“ Aus Platzgründen können wir hier nicht alle Präsidenten und Manager aufzählen, die unter Loni Braun beim VfB gedient haben. Aber auf jeden Fall war sie die Mutter der Kompanie, und man findet keine Bessere als sie, wenn man wissen will, was dieser Wehrle für einer ist.
„Ach, der Alex“, lacht Loni. Zehn Jahre lang hat sie mit ihm geschafft, Schreibtisch an Schreibtisch. Sie war der „Vorzimmerdrache“ und Wehrle der Referent des Präsidenten – und nie vergisst Loni Braun diesen obigen Tobsuchtsanfall und die Selbstzweifel, als Wehrle beschloss, den VfB zu verlassen und ein Angebot als Geschäftsführer des 1. FC Köln anzunehmen. Unsicher schaute er ihr über den Schreibtisch ins Auge und sagte: „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Worauf sie ihn mütterlich am Kragen packte: „Pass auf, Alex, wenn es einer kann, dann du!“ Er hat das Machtwort akzeptiert, und seine Karriere konnte beginnen. Er konnte es – und wie! Neun Jahre lang war er in Köln. Aber vom ersten Tag an war klar, dass er zurückkommt: Es gibt ein eindrucksvolles Foto von seiner Kölner Wohnung, mit einem riesengroßen VfB Mosaik an der Wand.
Schon als Kind war Wehrle ein VfBler, Typ Strampelanzug mit Brustring. Deshalb konnte er auch mitreden, als er einmal zu Gast war beim Altherrenstammtisch, den der Schreiber hier mit den VfB Veteranen Karl Allgöwer und Helmut Dietterle gegründet hat. Abwechselnd stoßen auch die alten Kanonen Elmer, Förster, Ohlicher, Hansi Müller oder Arie Haan dazu. An dem Tag waren wir beim Italiener, Salvatore servierte Bruschetta mit Oliven- und Thunfischcreme, und er erzählte, wie er 1989 in einem rostigen Passat und etlichen Pannen gen Süden fuhr, zum UEFA-Cup-Finale des VfB gegen Maradona und den SSC Neapel. „Wir wurden vom Schiedsrichter dort schamlos beschissen“, fauchte Allgöwer. Wehrle nickte. Er war damals 14. „Vor dem Fernseher“, erinnerte er sich, „habe ich mitgezittert.“ Inzwischen zittert er nicht mehr als Bub, sondern als Boss, auf der Tribüne.
Manchmal war es ein hartes Brot. In den sozialen Medien machte er beispielsweise mit dem schwäbischen Zorn Bekanntschaft, als er das Kerngeschäft Sport neu ausrichtete. Ein Problem war dabei, dass viele VfB Bruddler zu der Zeit noch gar nicht wussten, was ein Vorstandsvorsitzender so alles mitbringen muss. Wehrles Vorgänger hatten häufig große sportliche Meriten vorzuweisen, er brachte indes „nur“ ein Diplom als Verwaltungswissenschaftler mit der Abschlussnote 1,6 und eine lückenlose berufliche Ausbildung mit ins rote Haus. Aber so oder so: Er hat den Gegenwind ausgehalten und in Rückenwind für den VfB verwandelt. Das „Württembergische Weltmarkenbündnis“, das er schmiedete, zündete den Turbo beim VfB. Doch auch trotz dieses Erfolges blieb sein Blutdruck stabil. „Alex ruht in sich“, behauptet Erwin Staudt, der alte VfB Meisterpräsident – und findet, dass Wehrle Modell stehen könnte für die neue, moderne Art der Vereinsführung.
Früher war der Präsident der Boss, und gefragt waren Haudegen, die sich mit dem Kopf voraus in die Machtkämpfe stürzten. Solche Zeiten sind längst vorbei. Heutzutage führt der Vorstandschef, siehe Wehrle, und der fährt nicht mehr aus der Haut. Teamgeist heißt die Zauberformel, und in der Schule des VfB Altmeisters Staudt hat der Alex Wehrle früh gelernt: Ein Topmanager muss kein Sauhund sein, dessen Weg nach oben mit Leichen gepflastert ist. „Es war immer lustig bei uns“, erinnert sich Loni Braun. Morgens brachte Staudt Butterbrezeln mit, mittags ging es zum Essen ins „Rusticone“ in Wangen. Und einmal wurde der Chauffeur Staudt bei der Rückkehr von der tiefstehenden Sonne so geblendet, dass er krachend die Schranke am Clubzentrum zu Bruch fuhr. Loni Braun überlebte auf dem Beifahrersitz, Wehrle auf dem Rücksitz. Das war auch gut so, denn als innovativer Planer versucht er seither, den VfB besser zu machen. Die Balanced Score Card hatte er dereinst und OKR hat er jüngst eingeführt, ein Instrument zur Umsetzung der Unternehmensstrategie. Mit dem CRM-System lässt er Vertriebsprozesse automatisieren und die Marke VfB sitzt zusehends im Bewusstsein der Schwaben. Wasen, Weindorf, Weihnachtsmarkt, der VfB ist immer dabei stets im Dienst der guten Sache für vereinseigene Stiftung, die Wehrle federführend aus der Taufe hob. Und die Jahresbilanzen nähern sich wieder den besten der Vereinsgeschichte. Kurz: Happy Birthday.
Auch Loni Braun gratuliert, als Rentnerin im Remstal. „Ich bin ja jetzt eine alte Frau“, sagt sie, also eigentlich nicht mehr so wichtig. Umso überraschter war sie, als dann an einem Sonntag plötzlich das Handy surrte. Wehrle befand sich auf dem Heimweg von einem Spiel der U21 in Großaspach, sah an der B 14 plötzlich das Ausfahrtsschild Korb und rief spontan an: „Loni, darf ich auf einen Kaffee vorbeikommen?“ „Das ist der Alex“, sagt Loni Braun.
Oskar Beck
Oskar Beck, Jahrgang 1949, arbeitet seit Jahrzehnten als Sportreporter und Kolumnist für die Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten. Seit jeher begleitet er den VfB. Er wurde für seine Texte mit diversen Journalistenpreisen ausgezeichnet. Zehn Fußball-Weltmeisterschaften hat Beck besucht, zu allen wichtigen Spielen in Stuttgart war er aber als waschechter Remstäler rechtzeitig wieder daheim. Er ist felsenfest überzeugt: "Wenn England das Mutterland des Fußballs ist, sind wir Schwaben das Vaterländle.”