Herr Hildebrandt, seit sieben Wochen sind Sie bereits NLZ-Direktor beim VfB. Wie hat sich der Berliner im Schwabenland eingelebt?
Momentan wohne ich noch im Hotel, bin aber schon auf der Suche nach einer Lösung für meine Familie und mich. Ich war schon an verschiedensten Orten der Welt, daher bin ich sowohl mit Regionalität als auch mit Internationalität vertraut. Ich bin immer noch im Landeanflug, habe mich hier aber von Beginn an sehr wohlgefühlt. Baden-Württemberg an sich wird ja oft mit hoher Wirtschaftskraft assoziiert und auch der Gedanke an die Nachwuchsarbeit beim VfB war bei mir immer mit einem enormen Qualitätsanspruch verbunden. So habe ich den VfB, bei dem die Talententwicklung immer eine große Bedeutung hatte, aus der Ferne wahrgenommen. Ich komme jeden Tag sehr gerne zur Arbeit und empfinde es als ein Privileg, hier im Team mitwirken zu dürfen.
Sie sind in Berlin geboren und aufgewachsen. Wo waren Ihre fußballerischen Anfänge?
Ich habe in der D-Jugend, also relativ spät bei Empor Berlin mit dem Kicken begonnen. Das habe ich auch sehr leidenschaftlich getan. Aber schon damals hat sich abgezeichnet, dass die Bäume fußballerisch nicht über den Oberliga-Himmel hinauswachsen würden. Fußballerisch ging es bei mir also schnell eher um das Organisieren als um das Praktizieren.
Auf welcher Position haben Sie gespielt?
Rechts hinten, jedoch hat sich das zu meiner Zeit noch darauf beschränkt, alles abzuräumen. Konstruktive Beiträge waren von meiner Position damals nicht so nachgefragt.
Stattdessen schlugen Sie den Weg eines Trainers und Organisators ein.
Ja, und für damalige Verhältnisse auch relativ früh. Mit 17 war ich Co-Trainer in der D-Jugend meines Heimatvereins. Fünf Jahre später, 1994, hatte ich dann meine erste hauptamtliche Anstellung als U15-Trainer beim BFC Dynamo Berlin. Später ging es weiter zu Carl Zeiss Jena. Dort war ich Jugendleiter und U19-Trainer in Personalunion.
Das Organisieren und Strukturen erschaffen begleitet Sie also schon eine ganze Weile.
Jugendtrainer in Amateurvereinen müssen alles im Blick haben, können kaum etwas delegieren. In diesem oft ehrenamtlichen Engagement liegt die Basis für vieles, was wir in den Leistungszentren unter professionellen Bedingungen umsetzen können. Gerade als allein verantwortlicher Trainer in der E- und F-Jugend, habe ich viel von dem gelernt, was mir noch heute in der täglichen Arbeit hilft: Ausbildung planen, Wettkampf, Spielkleidung, Sponsoren, Spielerpässe und vieles mehr. Es gab damals auch kaum echte Mentoren. Auch deshalb war es für mich wichtig, ohne zeitlichen Verzug meine Trainer-Lizenzen zu machen. Man lernt recht zügig Selbstorganisation und kann mit Leidenschaft den Unterschied machen.
Sind Sie also der Typ Anpacker, der die Probleme sofort angeht, wenn er sie sieht?
Ich bin zumindest nicht der Typ, der Dinge lange liegen lässt. Ich habe einen generellen Blick auf das Thema Talententwicklung und versuche, alle Kompetenzen und Energien in einem Leistungszentrum zusammenzubringen, sodass sie die größtmögliche Wirkung erzielen.
Worin liegt für Sie der Reiz, im Jugendfußball zu arbeiten?
Die Grundmotivation ist es, die Spieler im Team zu begleiten, um sie am Ende ihres Ausbildungswegs auf der höchsten Stufe spielen zu sehen.
Lassen Sie uns nochmal auf Berlin zu sprechen kommen. VfB-Sportdirektor Fabian Wohlgemuth stammt ebenfalls aus der Hauptstadt. Gab es schon früher Berührungspunkte?
Fabian ist ein Stückchen jünger als ich. Unsere Wege haben sich gekreuzt, als er bei Dynamo Berlin in der A-Jugend gespielt hat, als ich dort C-Jugendtrainer war. Viele Jahre später hatten wir wieder Kontakt, als er im Leistungszentrum beim Hamburger SV im Scouting- und Analysebereich gearbeitet hat.
Beim HSV waren Sie von 2002 bis 2010 acht Jahre lang Leiter des NLZ. Wie hat sich die Arbeit mit Talenten seitdem verändert?
Der Fußball insgesamt und auch in den Nachwuchsleistungszentren ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Viele Themen sind dazugekommen oder wurden ausgebaut, Stichwort Schulkooperation. Die sportliche und außersportliche Betreuung der Spieler steht heute auf einem sehr viel tragfähigeren wissenschaftlichen Fundament. Wir haben eine sehr lebhafte Beraterlandschaft und noch viele weitere Einflussfaktoren. Der Jugendfußball ist öffentlicher geworden. Unsere Kernaufgabe bleibt jedoch unverändert die Entwicklung von Spielern für den Lizenzbereich.
Nach Ihrer Tätigkeit beim HSV und einer Station als sportlicher Leiter in der 2. Bundesliga bei Energie Cottbus waren Sie fünf Jahre lang für die Aspire Academy in Katar, einem Ausbildungszentrum für Sporttalente, zuständig. Was war dort Ihre Aufgabe?
Meine Aufgaben in Katar sind vergleichbar mit meiner jetzigen Rolle. Die Aspire Academy ist die Schule der Nationalmannschaften von Katar von der U12 bis zur U21. Dort sind die Mittel unerschöpflich, doch viel hilft nicht unbedingt viel. Meine Aufgabe war es, eine Konzeption umzusetzen, um die relevanten Jahrgänge für die großen Turniere, also die Asienmeisterschaft 2019 und die WM 2022, optimal vorzubereiten.
Welche Eindrücke haben Sie von dem Land und der Kultur mitgenommen?
Es war ein Spannungsfeld, ganz sicher. Auf der einen Seite haben wir direkt für die Königsfamilie gearbeitet. Es gab etliche Berührungspunkte. Der Emir selbst ist extrem fußballbegeistert und sein Bruder, Scheich Jassim, ist Gründer und Patron der Akademie. Andererseits habe ich die fünf Jahre dort nicht in der Fußball-Blase verbracht. Bevor ich meine Frau geheiratet habe, war sie Arbeitsmigrantin in Katar und hat sich in einer arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung gegen ihren katarischen Arbeitgeber durchsetzen können. Unser Sohn ist in Doha geboren. Katar ist entwicklungsbedingt seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem Ausnahmezustand und viel mehr als das, worauf wir das Land gerne reduzieren.
Und doch bleiben die Vorwürfe mit Blick auf die Menschenrechtslage.
Die Vorwürfe sind begründet. Ich verstehe mich nicht als Advokat der katarischen Regierung. Katar gehört zu den reichsten Ländern der Erde und wäre in der Lage, bedeutend mehr zu tun. Allerdings sollten wir bei aller Empörung auch auf uns selbst und unseren Teil in der globalen Gleichung schauen. Nicht nur Katar, sondern auch der Westen profitiert von den Ungleichheiten auf unserem Planeten. Katar ist stark geprägt von seiner Religion und den damit verbundenen Traditionen. Von den dort Lebenden zu fordern, innerhalb eines Jahrzehnts die Werte des Westens zu adaptieren, wofür uns aber Jahrhunderte zur Verfügung standen, ist zumindest einmal schwierig. Die überwiegende Mehrzahl der Arbeiter kommt als Analphabeten ins Land und trifft dort auf die bekannten oft unhaltbaren Zustände. Den Frauen unter ihnen geht es selten besser. Die WM hat ihnen Öffentlichkeit, ein Gesicht und eine Plattform gegeben, um für ihre Rechte zu kämpfen.
Kommen wir zurück zum Fußball und zum VfB. Wie haben Sie in der Vergangenheit die Jugendausbildung beim VfB aus der Ferne wahrgenommen?
Meine ersten wesentlichen Kontakte mit dem VfB waren in meiner Zeit beim HSV. Mit Hamburg konnten wir dem VfB mannschaftlich nie das Wasser reichen. Für uns gehörte der VfB zu den Benchmark-Clubs. Zuletzt hat das NLZ des VfB sein Profil in der Öffentlichkeit als innovativer, der Wissenschaft zugewandter Standort schärfen können.
Wie haben Sie das Nachwuchsleistungszentrum bei Ihrem Amtsantritt vorgefunden?
Wir haben fantastische Rahmenbedingungen. Der Anspruch, alles für eine hochwertige Nachwuchsausbildung zu geben, ist allgegenwärtig. Insgesamt bin ich bisher auf viel Offenheit und die Bereitschaft zur Kooperation gestoßen. Viele innovative Ideen kommen aus Stuttgart, das Wort Potenzialtraining ist inzwischen ein deutschlandweit bekannter Begriff.
Wie gehen Sie die Aufgabe als NLZ-Direktor an?
Es geht darum, das Vorhandene weiterzuentwickeln. Wer eine neue Konzeption erwartet, wird enttäuscht werden. Vieles, was in den kommenden Wochen im Vordergrund steht, betrifft das Mindset.
Wie meinen Sie das?
Das lässt sich an dieser Stelle nur anreißen. Aber vielleicht so viel: Zwanzig Jahre Lizenzierung und Zertifizierung durch DFB und DFL haben in der Talentförderung in Deutschland ihre Spuren hinterlassen. Über zwei Jahrzehnte ging es um die Perfektionierung des Äußeren, von Infrastruktur, Personalaufbau, Schulkooperation, Methoden-Konzeption, Analyse, Technologie. Am Ende haben alle etwas sehr Ähnliches. Die Frage ist, ob perfekte Rahmenbedingungen tatsächlich immer zu den besten Ergebnissen oder eher ein Stück dazu führen, dass wir unsere Spieler zu passiven Konsumenten unserer Angebote erziehen. Wir aber wollen an der Schwelle zum Herrenbereich Junge Wilde sehen und keine jungen Erschöpften. Da, wo der größte Schritt zu vollziehen ist, brauchen wir Spieler im Attacke-Modus. Das VfB-NLZ benötigt keinen spektakulären konzeptionellen Turnaround. Wir müssen die Rolle der Trainer stärken und müssen – jeder in seinem Bereich – das eigene Handeln auf die einzige Zielstellung, die wir haben, ausrichten: auf die Entwicklung von Spielern für den Lizenzbereich.
Und darüber hinaus?
Auf der praktischen Ebene wollen wir in Zukunft mehr internationale Turniere spielen, da internationale Vergleiche ein wesentliches Ausbildungsmittel darstellen. Auch im Scouting-Bereich wollen wir den nächsten Schritt vollziehen, insbesondere in den jüngeren Jahrgängen. Die bestehenden Strukturen aus Regional-Scouting, Fußballschule und Partnervereinen wollen wir besser verzahnen. Gerade in unserem Einzugsgebiet in Baden-Württemberg wollen wir mehr Präsenz zeigen.
Die U21 spielt bisher eine gute Saison und hat sich in der Spitzengruppe der Regionalliga Südwest etabliert. Wie wichtig sind Tabellenplatz und Spielklasse für unsere höchste Ausbildungsmannschaft?
Es geht immer auch um den Sieg. Wir spielen Fußball, um zu gewinnen, und das steht in keinem Widerspruch zu unseren Ausbildungsambitionen. Wenn also die Chance besteht, mit der U21 in die 3. Liga aufzusteigen, werden wir alles daransetzen, unserem NLZ diesen Standortvorteil zu verschaffen. Da ist der Schritt zur Bundesliga ein kleinerer als aus der Regionalliga. Ein Verein von der Potenz und des Anspruchs des VfB sollte das Ziel haben, mit der U21 mittel- bis langfristig wieder in der 3. Liga zu spielen.
Kürzlich hat mit Luca Raimund ein weiteres VfB-Eigengewächs seine ersten Einsatzminuten bei den Profis erhalten. Was kann das NLZ tun, damit dies in Zukunft wieder häufiger gelingt?
Die Tür zu den Profis stand noch nie so weit offen wie derzeit. Die Lage um unsere Lizenzmannschaft hat sich in den letzten Monaten enorm stabilisiert. Es geht nicht mehr an jedem Wochenende um alles oder nichts. Aktuell ist es wieder möglich, junge Spieler im Training und auch im Wettkampf zu integrieren. Zudem haben wir mit Sebastian Hoeneß und Fabian Wohlgemuth zwei entscheidende Personen, die den Profibereich lange aus der NLZ-Perspektive betrachtet haben. Interesse und Verständnis sind also garantiert. Wir sitzen wöchentlich mit den Co-Trainern Malik Fatih und David Krecidlo zusammen, um die Einsätze der Spieler am Wochenende zu besprechen. Die Chance nutzen müssen allerdings die Spieler selbst. Der Übergang ist ein Nadelöhr. Für manche kommt die erste Mannschaft noch zu früh, für andere ist die U21 aber nicht die richtige Reizsetzung. Wir werden für diesen Bereich einen Ansprechpartner schaffen, der die besondere Situation der Übergangsspieler sportlich und außersportlich dauerhaft organisiert.
Unser U19-Innenverteidiger Max Herwerth ist einer der U17-Weltmeister, denen in der Öffentlichkeit nun eine vielversprechende Zukunft vorhergesagt wird. Welche Herausforderungen kommen auf diese Talente zu?
Da halte ich es wie Sebastian Hoeneß und sage: demütig bleiben, Dinge richtig einordnen. Die Jungs haben einen überragenden Erfolg geschafft. Es war beeindruckend, wie sie es als Team geschafft haben. Nun ist es wichtig für die Spieler, hungrig zu bleiben, die gewonnene Erfahrung hier einzubringen und mit Freude an den nächsten Schritten zu arbeiten. Max ist dafür das beste Beispiel.