Pellegrino Matarazzo, in US-Serien und -Filmen wurde bis vor wenigen Jahren stets das Bild vermittelt, dass es in den USA mit Football, Baseball, Eishockey und Basketball im Grunde nur vier Sportarten gibt und Fußball eher etwas für Mädchen sei. Wie kommt man da als Jugendlicher trotzdem zum Fußball?
Pellegrino Matarazzo: „Früher war das tatsächlich so, inzwischen hat sich das aber verändert und Fußball ist heutzutage auch in den USA der meistgespielte Jugendsport bei Mädchen und Jungen. Als ich angefangen habe, Fußball zu spielen, war das zwar noch ein Stück weit verspottet in den USA, aber in meiner italienischen Großfamilie war die Leidenschaft für diese Sportart schon immer da. Und die wurde dann auch schon früh bei mir entfacht. Sonntags war immer der Familientag, an dem sich unsere Familie mit den Familien der Geschwister meines Vaters bei meinen Großeltern getroffen hat. Da gab es zuerst ein gutes Essen, danach sind wir raus in einen Park und haben dort alle zusammen Fußball gespielt. Auf zwei Tore ohne Netze zwar, aber es war immer eine riesige Gaudi. Und auch sonst gehörte bei jedem Familienfest immer ein Fußballspiel im Garten dazu. Unter der Woche haben mein Bruder und ich uns nach der Schule immer den Ball geschnappt und sind rausgegangen, um mit anderen Fußball zu spielen. Der Fußball war also schon immer ein fester Bestandteil meines Lebens.“
Welcher Verein stand damals bei Ihnen und Ihrer Familie hoch im Kurs?
Pellegrino Matarazzo: „In Bezug auf Fußball gab es oft mal Streitigkeiten zwischen meinem Vater und meiner Mutter. Er stammt aus Avellino, sie aus Salerno. Wenn die Vereine aus den beiden Städten aufeinandertreffen, sind das hitzige Derbys. Der SSC Neapel ist der von Avellino und Salerno aus am nächsten gelegene, größere Verein. Also haben sich meine Eltern auf Napoli geeinigt.“
Konnten Sie, nicht zuletzt auch wegen der Zeitverschiebung, in Ihrer Kindheit überhaupt italienischen Fußball verfolgen?
Pellegrino Matarazzo: „Als kleiner Junge bin ich samstags und sonntags immer um 8.30 Uhr aufgestanden und ins Schlafzimmer meiner Eltern gegangen, wo ein kleiner Fernseher stand. Dort habe ich dann mit meinem Vater die Livespiele der Serie A angeschaut. Um 13 Uhr kam dann die Zusammenfassung aller Spiele, der habe ich immer entgegengefiebert.“
Schon bald sollte der Fußball für Sie zu mehr als einem leidenschaftlichen Hobby werden. Er ermöglichte Ihnen eine einmalige Chance, weil Sie trotz eines Schulabschlusses mit der Note 1,0 ohne den Fußball nicht an der renommierten Universität Columbia hätten studieren können.
Pellegrino Matarazzo: „Das stimmt. Meine Familie stammt aus einfachen Verhältnissen. Für sie wäre es nicht möglich gewesen, die Studiengebühren der Columbia zu bezahlen. Und an einer Uni wie der Columbia gibt es keine Stipendien für Sport. Wenn du aber gute Noten hast und über ein Merkmal verfügst, das dich besonders macht – was bei mir mein fußballerisches Potenzial war – dann bekommst du eine staatlich finanzierte Unterstützung. Dadurch konnte ich mir dann das Studium dort leisten.“
Die Columbia liegt in Manhattan. Wie war es, im Alter von 17 bis 21 Jahren mitten in einer Megacity wie New York zu leben?
Pellegrino Matarazzo: „Das war die prägendste Zeit meines Lebens. Ich bin als 17-Jähriger nach New York gezogen. Bis dahin hatte ich nur in dem behüteten Umfeld meiner Familie zuhause in Paterson im Bundesstaat New Jersey gelebt. Und dann bin ich als Student und Sportler in eine Welt reingekommen, in der es Angebote ohne Ende gibt und man sich in der Anonymität dieser City entfalten kann. Ich habe damals sehr viele intensive Eindrücke auf einmal erlebt. Es war eine unbeschreibliche Erfahrung.“
Weniger schillernd war dagegen der Alltag bei der Uni-Mannschaft Columbia Lions, zu deren Spiele 400 bis 500 Zuschauer kamen und deren Sportstätten in der nicht ganz so glamourösen Bronx liegen. War das Fußballspielen bei den Columbia-Lions für Sie dennoch die Erfüllung eines Traums, auf den Sie jahrelang hingearbeitet hatten?
Pellegrino Matarazzo: „Für mich war es immer klar, dass ich diesen Schritt gehe und auch in der Collegezeit Fußball spielen werde. Dazu gab es für mich auch mehrere Optionen. Mein Traum war immer, eines Tages in Europa Fußball zu spielen. Der europäische Fußball war damals für mich immer so weit weg. Er war für mich immer etwas Mystisches, etwas Großartiges. Ich hatte mir immer gesagt, dass ich es eines Tages auch spüren und erleben möchte, in Europa zu spielen. Deshalb habe ich damals den Weg in die Bronx auf mich genommen. Diese Zeit war auch ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde. Wir haben immer geschaut, dass wir zügig von der U-Bahnstation auf die Anlage kommen.“
Wie sah denn der rein fußballerische Alltag bei den Columbia Lions aus?
Pellegrino Matarazzo: „Die Saison ging immer von August bis November. In diesen vier Monaten haben wir fast jeden Tag trainiert oder ein Spiel bestritten. Es waren stets vier sehr intensive Monate, in denen wir meistens zweimal pro Woche gespielt haben. Im Winter und Frühling standen dann immer Hallenfußball und vor allem viel Krafttraining auf dem Programm. Gerade im Frühling haben wir aber lediglich zwei-, dreimal die Woche trainiert und ab und zu ein Testspiel bestritten. Diese Phase war nicht so professionell wie ich sie hier im gleichen Alter im NLZ oder im Profibereich erlebt hätte. Grundsätzlich ist der College-Fußball weniger taktisch und technisch geprägt als der Fußball hier, dafür ist er viel athletischer. Ich war damals extrem fit – viel fitter, als ich es später in den neun Jahren Profifußball in Deutschland jemals gewesen bin.“
Nach Ihrem Abschluss in „Angewandter Mathematik“ bekamen Sie ein Arbeitsangebot einer Investmentbank. Warum haben Sie dennoch auf die Karte Fußballprofi gesetzt?
Pellegrino Matarazzo: „Wie gesagt: Mein Traum war, eines Tages in Europa Fußball zu spielen. Deshalb wollte ich die Chance ergreifen, als sie sich mir bot. Ich wollte schauen, was ich erreichen kann. Gleichzeitig bin ich auch sehr abenteuerlustig. Also bin ich nach dem Studium nach Italien. Ein Berater, den ich über ein paar Ecken kannte, hat behauptet, dass er einen sehr guten Kontakt zu einem Serie-B-Club hat und mir ein Probetraining vermitteln kann, wenn ich nach Italien komme. Als ich in Italien ankam, habe ich ihn kontaktiert und gefragt, wann es losgeht – es ging nie los. Ich habe dann ein halbes Jahr bei meinen Großeltern in Italien verbracht. Ich habe weiter trainiert, bin viel gereist und habe viel gesehen. Ich habe die Zeit genossen. Es war eine schöne Zeit, aber in Bezug auf Fußball nicht die gewinnbringende.“
Die sollte ein paar Monate später beginnen. Doch zuerst ging es für sie zurück in die USA. Was hat Sie dazu bewogen, nach dem sportlich missglückten Abstecher nach Italien, weiter auf den Sport zu setzen und nicht doch das Angebot aus der Wirtschaft anzunehmen?
Pellegrino Matarazzo: „Als ich in den USA zurück war, folgte eine Zeit, in der ich viel überlegt und abgewogen habe. Ich habe mir dabei aber immer wieder gesagt, dass es nicht schon vorbei sein kann. Also habe ich noch ein, zwei Monate gewartet, bis mich ein Scout mit Verbindungen nach Deutschland kontaktiert hat. Heute bin ich froh, dass ich damals ausgeharrt habe und bin meiner Familie dankbar, dass ich von ihr immer die notwendige Unterstützung hatte – vor allem auch in dieser Phase. Auch wenn meine Mutter mir damals öfters mal gesagt hat, dass ich einen Job finden soll, weil es mit dem Fußball nichts mehr wird.“
Es ging zunächst weiter bei Eintracht Bad Kreuznach in der Oberliga. Blicken wir auf dieses Jahr 2000: Sie waren 22 Jahre alt, lebten in einem komplett neuen Land, dessen Sprache Sie nicht konnten, und hatten dort keinen familiären Anschluss. Wie haben Sie das damals erlebt?
Pellegrino Matarazzo: „Ich habe mich relativ schnell zurechtgefunden in dieser neuen Welt. Fußball ist Fußball, egal wo auf der Welt. Außerdem kommuniziert man nicht nur durch Sprache, sondern auch viel nonverbal, also durch Körpersprache oder Mimik. Ich hatte einen Teamkollegen, der kein Englisch konnte und mit dem ich fast täglich in ein Café zum Karten spielen bin. (lacht.) Von ihm habe ich aber mehr Vokabeln wie ,ein Ass‘, ,zwei Asse‘ gelernt. Ich hatte mir aber auch, als ich nach Deutschland gekommen bin, ein Arbeitsbuch gekauft und mir die Sprache damit selbst beigebracht. Und als ich 2002 dann hier meine Frau kennengelernt habe, ging es ganz schnell mit der Sprache, weil wir zuhause nur Deutsch gesprochen haben. Grundsätzlich habe ich die Erfahrung gemacht: Wenn man offen ist für eine Kultur oder eine Situation, dann geht es schnell. Außerdem habe ich auch kein Problem damit, ein Stück weit alleine zu sein.“
Wieviele Sprachen sprechen Sie heutzutage?
Pellegrino Matarazzo: „Deutsch und Englisch, Italienisch und ein bisschen Spanisch.“
Nach einer Saison in Bad Kreuznach spielten Sie in den Jahren danach beim SV Wehen, Preußen Münster und der SG Wattenscheid 09 immer in der Regionalliga, die damals noch die dritthöchste Liga in Deutschland war, bevor Sie 2006 als 28-Jähriger zum 1. FC Nürnberg II wechselten. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie nach Ihrer Spielerkarriere eine Trainerkarriere starten möchten?
Pellegrino Matarazzo: „Als ich das Nürnberger Angebot annahm, war die Entscheidung klar. Davor gab es wieder so eine Phase, in der ich überlegt habe, in die USA zurückzuziehen, mein Studium zu nutzen und einen normalen Job zu beginnen. Aber dann habe ich mich für den 1. FC Nürnberg und damit für den Fußball entschieden. Man hatte mir einen Vertrag als Spieler in der zweiten Mannschaft angeboten und es mir zugleich ermöglicht, parallel Erfahrungen im Trainerbereich zu sammeln und Trainerlizenzen zu machen. Mir war bewusst, dass die deutsche Trainerausbildung international geschätzt ist, daher habe ich mich entschieden, diesen Schritt zu gehen. Wenn man sich für den Trainerjob entscheidet, birgt das Risiken. Ich bin aber ein sehr ehrgeiziger Mensch und war bereit, diese Risiken einzugehen. Letztlich war dieser Wechsel nach Nürnberg eine gute Entscheidung.“
Warum?
Pellegrino Matarazzo: „Ich habe dort eine sehr breite Ausbildung erleben dürfen. Wo es eine Aufgabe gab, wollte ich sie machen – und durfte das auch. Ich war extrem neugierig und wollte alles an Wissen und Erfahrungen aufsaugen. Ich war nicht nur Jugendtrainer, sondern auch mehrere Jahre lang Rehaund Athletiktrainer. Ich habe eine Life-Kinetik-Ausbildung gemacht und war mehrere Jahre lang Übergangskoordinator und habe dabei die Toptalente des Vereins fürs Profiteam vorbereitet. Darüber hinaus habe ich die sportliche Koordination an der Eliteschule des Fußballs übernommen und auch die sportpsychologische Arbeit im NLZ lief über mich. Ich wollte alles machen. Ich hatte einen Durst nach Wissen, den ich nicht sättigen konnte, bis ich gemerkt habe, dass ich an einem Punkt angekommen war, dass ich nun auch mal Cheftrainer sein möchte. Als ich dann der U19-Trainer wurde, musste ich nach und nach meine bisherigen Aufgaben abgeben und mich auf den reinen Trainerjob fokussieren. Aber das alles bis dahin war für mich eine enorm wichtige Phase auf dem Weg zum Cheftrainer. Denn eines meiner Merkmale als Cheftrainer ist heute, dass ich die Dinge ganzheitlich betrachte und bewerte.“
Wie äußert sich das in der täglichen Arbeit?
Pellegrino Matarazzo: „Indem ich eine Art Spiegel für unsere Spezialisten in den verschiedenen Fachgebieten bin, der mit ihnen diskutiert und Dinge hinterfragt. Es gibt viele taktisch orientierte Trainer, es gibt Trainer, die fast nur auf Daten schauen, auf Sprintwerte und so weiter, und es gibt Trainer, die nur auf das Gruppengefüge achten. Ich ticke so, dass ich sehe, wie das eine das andere beeinflusst. Ich möchte mich da aber nicht als Ausnahme darstellen, es gibt auch andere Trainer, die so sind.“
2017 wechselten Sie vom Jugendbereich des 1. FC Nürnberg zur TSG Hoffenheim. Dort waren Sie zunächst der U17-Trainer. Nach einem halben Jahr wurden Sie Co-Trainer der Bundesligamannschaft unter Cheftrainer Julian Nagelsmann und blieben das fast zwei Jahre lang bis zu Ihrem Wechsel zum VfB. Wie ordnen Sie die Zeit in Hoffenheim ein?
Pellegrino Matarazzo: „Der Schritt nach Hoffenheim war extrem gewinnbringend für mich. Ich war zuvor elf Jahre lang in Nürnberg gewesen und konnte nun an einem anderen Ort Ideen testen, austauschen und festigen. Die Zeit mit Julian Nagelsmann war dahingehend prägend, dass sich viele Sachen bestätigt haben. Und er hat mit seinen Ideen und Ansätzen die eine oder andere Lücke bei mir gefüllt.“
Wie unterscheidet sich der Umgang eines Trainers mit einem Jugendspieler vom Umgang mit einem Profispieler?
Pellegrino Matarazzo: „Ein Profi hat in der Regel schon vieles im Fußball erlebt. Ihn muss man in erster Linie durch Inhalt und Menschlichkeit von sich als Trainer überzeugen, während ein Jugendspieler bereit ist, alles aufzusaugen und umzusetzen, was der Trainer ihm sagt. Mein Ansatz im Profibereich ist, die Spieler menschlich und fachlich von mir zu überzeugen, um sie überhaupt erreichen zu können.“
Ihnen wird immer wieder der Stempel aufgedrückt, dass Sie der Ruhige, der Analytiker, der Mathematiker sind. Stört Sie das?
Pellegrino Matarazzo: „Nein, weil ich in der Öffentlichkeit diese Rolle einnehme. In Gesprächen mit Medienvertretern geht es um die Sache, also analysiere ich etwas. Aber im Alltag nehme ich verschiedene Rollen ein, ich reagiere in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich. Ich glaube es ist möglich, gleichzeitig sachlich und analytisch, aber auch emotional zu sein – das sind keine Gegenpole.“
Wie haben Sie in jener Situation reagiert, als bei Ihrem Bundesligadebüt am ersten Spieltag der aktuellen Saison im Heimspiel gegen den SC Freiburg kurz nach der Pause gleich mal das 0:3 fiel?
Pellegrino Matarazzo: „Ich habe nach vorne geschaut. Wenn es ein Problem gibt, verharre ich nicht in dem Problem, sondern will eine Lösung finden. Es ist immer wichtig, die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist, sonst kommt man nicht vorwärts. Wenn du in der Vergangenheit bleibst, kannst du nicht die Gegenwart beeinflussen. Deswegen gilt in so einer Situation: schnell abhaken und weitermachen. Das wollte ich durch meine Worte und mit meiner Körpersprache auf die Mannschaft übertragen.“
Wenn Sie sich Ihren Alltag im Dezember 2020 anschauen: Leben Sie nun diesen Traum, den Sie früher von einem Engagement im europäischen Fußball hatten?
Pellegrino Matarazzo: „Ja sicher. Ich habe viel geopfert für diesen Beruf, auf dem Weg hierher. Ich habe viel Schweiß und Blut investiert. Nun bin ich jeden Tag dankbar, auf diesem Niveau Trainer zu sein, bei diesem Verein Trainer zu sein und all das erleben zu dürfen.“