In der Saison 2015/2016 war Sasa Kalajdzic an einem Punkt angekommen, an dem er keine Lust mehr hatte auf Fußballspielen. Es war wieder einer dieser tristen Sonntagmorgen, von denen es in diesem Jahr so einige für ihn gab. Er, das 18-jährige Talent, das sich einst ausgerechnet hatte, in den Profifußball zu stürmen, musste an jenem Tag wieder mal im Reserveteam des Viertligisten SR Donaufeld Wien mitkicken. Anpfiff: 8:30 Uhr. Zuschauer: so gut wie keine. Und weil die Reservemannschaft des SR Donaufeld noch nicht einmal über einen Torhüter verfügte, drückte man einfach dem kleinsten Spieler der Mannschaft zwei Handschuhe in die Hand und schickte ihn zwischen die Pfosten. Die Gegner nutzten das gnadenlos aus, schossen quasi von überall hoch aufs Tor – und gewannen am Ende mit 7:1. „Das war das peinlichste Spiel meines Lebens“, blickt Sasa Kalajdzic zurück, „danach hatte ich echt die Lust auf Fußball verloren.“
Doch wie so oft in dieser Zeit nahm ihn auch an jenem Tag wieder sein Vater, der in den 90er Jahren während des Kriegs in seiner Heimat Bosnien nach Wien gezogen war, beiseite und redete ihm gut zu. Er erklärte ihm, dass es manchmal im Leben auch schwierige Phasen gibt und er nicht vorschnell aufgeben darf. Also setzte Sasa Kalajdzic seine Fußballkarriere fort – und die sollte noch in derselben Saison so richtig losgehen.
Die Ausdauer eines Marathonläufers, aber die Kraftwerte von Micky Maus
Die Statistik zur Karriere von Sasa Kalajdzic liest sich beachtlich. Bei seinem ersten Spiel in einer Aktivenmannschaft, in Österreich „Kampfmannschaft“ genannt, ist er 17 Jahre alt. Noch vor seinem 22. Geburtstag hat er bereits 33 Partien in der österreichischen Bundesliga absolviert, dabei elf Tore erzielt und zwölf vorbereitet. Hinzu kommen sechs Einsätze in der österreichischen U21-Nationalmannschaft, darunter die Teilnahme an der EM 2019. So weit, so schön – so vielversprechend für die Zukunft.
Was diese Zahlen jedoch nicht verraten: Wie sehr er sich im Laufe der Jahre immer wieder durchbeißen musste. „Bis zu meinem Wechsel als 19-Jähriger zu Admira Wacker Mödling hat nie ein Trainer von Anfang an auf mich gesetzt“, verdeutlicht er, „ich musste mich jedes Mal aufs Neue erst in die Mannschaften reinkämpfen.“ Einer der Gründe dafür: Zu seiner Zeit als Jugendspieler war der heute exakt zwei Meter große VfB Profi den anderen Spielern körperlich meist unterlegen. Am Ball bewies er zwar stets auf eindrucksvolle Weise sein Können, die körperlichen Defizite waren jedoch ein echtes Hindernis. „Zu mir hat mal ein Trainer gesagt, dass ich Ausdauerwerte wie ein Marathonläufer habe, aber Kraftwerte wie Micky Maus“, erzählt er, „deswegen hat es mir auch nie zu einem Platz in den Akademien der österreichischen Proficlubs gereicht, ich konnte körperlich einfach nicht mithalten.“
Erst mit 16, 17 Jahren habe er einen riesigen Wachstumsschub gehabt und sei plötzlich 1,90 Meter groß gewesen. Weil er zudem als 17-Jähriger parallel zum Fußballtraining mit seinen Kumpels aus der Schule auch noch jeden Tag ins Fitnesstudio rannte, legte er damals auch an Masse zu. 15 Kilogramm innerhalb weniger Monate. 15 Kilo, die der zuvor ziemlich dünne Sasa Kalajdzic gut vertragen konnte.
Zunächst der Ballverteiler im Mittelfeld
Dank seiner fußballerischen Fähigkeiten erkämpfte sich Sasa Kalajdzic dennoch in all den Jahren früher oder später immer einen gewissen Stellenwert in den jeweiligen Teams. So war das beim SV Donau Wien, dem nur fünf Minuten von seinem in der Nähe der UNO-City gelegenen Elternhaus entfernten Verein, bei dem er als Siebenjähriger anfing.
So war das beim SR Donaufeld Wien, zu dem er zwei Jahre später seinem bisherigen Jugendtrainer nach dessen Vereinswechsel folgte. Und so war das beim First Vienna FC, zu dem er als 13-Jähriger wechselte, weil dessen Nachwuchsbereich genauso stark und angesehen war wie die Jugendteams der berühmten Clubs Austria und Rapid Wien. In den vier Jahren beim ältesten österreichischen Fußballverein gewann Sasa Kalajdzic Meisterschaft um Meisterschaft, schlug mit seinen Mannschaften regelmäßig die Akademieteams der Bundesligisten. Zu der Erfolgsgeschichte gehören aber auch Phasen wie jene in seiner letzten Saison bei Vienna, als er in der U18 im ersten halben Jahr so gut wie nie spielte und im zweiten Halbjahr zum wichtigsten Spieler der Mannschaft avancierte.
Im Sommer 2014 ging es für den 17-Jährigen zurück zum soeben in die dritthöchste Liga aufgestiegenen SR Donaufeld Wien. Dort durfte er zwar in der Kampfmannschaft trainieren, lief aber bis auf bei zwei Kurzeinsätzen stets in der U18 auf. Und auch in der Saison darauf, die Kampfmannschaft war direkt wieder abgestiegen, trainierte er zwar in der Ersten mit, musste aber stets in der Reserve kicken. Weil er parallel dazu die Schule mit der Matura abschloss, störte ihn das zunächst zwar nur am Rande, die frustrierenden Erlebnisse auf dem Fußballplatz setzten ihm mit der Zeit aber immer mehr zu.
Doch Sasa Kalajdzic biss sich durch. Und das sollte sich auszahlen. In der Rückrunde der Saison 2015/2016 begeisterte er als Spieler des Reserveteams den Trainer der Kampfmannschaft so sehr, dass dieser ihn für das danach stattfindende Match der ersten Mannschaft gleich noch mit auf die Bank nahm und ihn später einwechselte. Prompt erzielte Sasa Kalajdzic ein Tor, spielte zur Belohnung im nächsten Spiel der Kampfmannschaft gar von Anfang an – und traf wieder. „Danach habe ich in den letzten acht Saisonspielen immer von Anfang an gespielt und sieben Tore gemacht“, erinnert er sich freudig. Und das, obwohl er zu dieser Zeit, wie auch in all den Jahren zuvor, entweder als Sechser oder als Ballverteiler auf der zehn auflief. Zum Stürmer wurde er erst in der Saison darauf.
Hattrick innerhalb von 13 Minuten
Über den Kapitän bei SR Donaufeld, einem Mitarbeiter der Admira-Akademie, kam er zum Bundesligisten FC Admira Wacker Mödling. Im ersten Jahr spielte er in der zweiten Mannschaft des Vereins. Zunächst weiterhin im Mittelfeld. Doch eines Tages schickte ihn der Trainer für die letzten 15 Minuten der Partie in den Sturm. Dabei sorgte Sasa Kalajdzic so sehr für Furore, dass er in den restlichen sechs Spielen bis zur Winterpause immer als Stürmer auflief. Seine Bilanz in diesen sechs Partien: acht Tore, darunter ein Hattrick innerhalb von 13 Minuten und ein 2:1-Siegtreffer in der 90. Minute. Danach gab es kein Zurück mehr.
Dank seiner starken Leistungen in der Zweiten gehörte er ab Sommer 2017 fest zum Bundesligakader der Admira. Dem Hoch folgte jedoch das Tief. Zunächst sportlich, als er in seinen ersten 18 Bundesligaspielen nur drei Treffer erzielte. Dann setzte ihn sein Körper außer Gefecht. Erst erlitt er im März 2018 einen Ermüdungsbruch im Fuß. Im November zog er sich kurz nach seinem Comeback einen Anriss der Syndesmose zu. So dauerte es bis zum März 2019, bis Sasa Kalajdzic wieder voll einsatzfähig war. Und wie er das dann war! Zwölf Spiele, acht Tore, vier Assists. Oder wie er es ausdrückt: „Ich habe dann die Halbsaison meines Lebens gespielt.“
Eine Halbsaison, die ihn national wie international begehrt machte. Und so kam es im Sommer kurz vor der U21 EM zu einem Gespräch zwischen VfB Sportdirektor Sven Mislintat und Sasa Kalajdzic, das den jungen Österreicher schwer beeindruckte. So sehr, dass die Entscheidung, wohin er wechselt, längst gefallen war, als nach einer guten EM auch noch andere Offerten eintrudelten. „Ich hatte beim VfB einfach das beste Gefühl“, sagt Sasa Kalajdzic, „außerdem hat es mich sehr beeindruckt, dass Sven Mislintat extra zu uns ins Trainingslager ins Burgenland kam, um mit mir persönlich zu sprechen, obwohl von vornerein klar war, dass ich an dem Tag nur 30, 40 Minuten Zeit habe.“
Sasa Kalajdzic:
Ich hatte beim VfB einfach das beste Gefühl. Außerdem hat es mich sehr beeindruckt, dass Sven Mislintat extra zu uns ins Trainingslager ins Burgenland kam, um mit mir persönlich zu sprechen, obwohl von vornerein klar war, dass ich an dem Tag nur 30, 40 Minuten Zeit habe.
"Marcin war extrem wichtig für mich"
Wenn Sasa Kalajdzic über seine Fußballkarriere spricht, ist er Feuer und Flamme. Voller Begeisterung erzählt er detailliert von zahlreichen Szenen, die zu wegweisenden Toren für den Verlauf seiner Karriere führten. Er streicht die Bedeutung seines Vaters heraus, der alles dafür unternahm, dass der Filius nicht abhob, und von Ernst Baumeister, der an verschiedenen Stationen sein Trainer war und der ihn im sportlichen Bereich enorm weiterbrachte. Und er spricht ganz sachlich, frei von jeglicher Enttäuschung oder jeglichem Groll, manchmal auch mit einer gewissen Portion Selbstironie, über die Phasen, in denen es weniger gut lief. Wer Sasa Kalajdzic in diesen Momenten erlebt, der erkennt, wie sehr er für den Fußball brennt – und dass er sich ziemlich sicher auch durch die nächste große Herausforderung seiner Karriere, die er aktuell meistern muss, erfolgreich kämpfen wird.
Denn auch diesmal, als er sich auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Karriere befand und zum VfB wechselte, um im deutschen Profifußball durchzustarten, wurde einmal mehr sein ganzer Kampfgeist herausgefordert. Noch in der Saisonvorbereitung erlitt er einen Kreuzband-, Außenmeniskus- und Innenbandriss im Knie. Die bittere Folge: monatelange Reha statt Torjagd in der Mercedes-Benz Arena. „Ich habe schon einiges erlebt, aber diese Verletzung war wirklich hart. Es war keine einfache Situation. Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich die Saison vergessen kann. Zudem war ich am Anfang auch im Alltag komplett eingeschränkt. Ich kannte in Stuttgart noch kaum Leute und war fast bei allem auf Hilfe angewiesen, weil ich zum Beispiel auch nicht Auto fahren durfte“, blickt er zurück, „in dieser Phase war es sehr hilfreich, dass mir der Verein die Möglichkeit gegeben hat, mich bei meiner Familie in Österreich zu erholen. Das fand ich super und war auch sehr wichtig für meinen Kopf.“
Und so nahm er schon bald die Herausforderung an, schuftete über Monate hinweg Tag für Tag für sein Comeback. In der VfB Reha-Welt oft an seiner Seite dabei: Marcin Kaminski, der sich kurz nach ihm einen Kreuzbandriss zugezogen hatte. „Marcin war extrem wichtig für mich. Ich habe mich wirklich sehr gut mit ihm verstanden. Wir haben uns nicht nur in der Reha getroffen, sondern auch privat und ich durfte seine Familie kennenlernen“, sagt Sasa Kalajdzic, „als Marcin nicht mehr in der Reha-Welt war, weil er schon früher mit den Übungen auf dem Trainingsplatz anfangen konnte, habe ich gemerkt, dass er mir fehlt.“
Inzwischen trainieren die beiden längst wieder zusammen – ganz normal mit ihren Mitspielern auf dem Trainingsplatz. Und weil die Saison wegen der Corona-Unterbrechung nun einige Wochen länger andauert, konnte Sasa Kalajdzic inzwischen sogar schon sein Pflichtspieldebüt beim VfB geben. Gegen den Hamburger SV spielte er zwölf Minuten, gegen Dynamo Dresden eine und gegen den VfL Osnabrück 15. „Ich bin ein ehrgeiziger Typ, will so viele Tore wie möglich machen und eigentlich jede Minute spielen. Aber ich weiß, dass das noch nicht geht“, sagt er, „ich habe nun die Einstellung, dass jede Minute, die ich spiele, ein Zuckerl ist – dass ich aber auch alles gebe und unbedingt etwas dazu beitragen möchte, dass wir als Verein unser Saisonziel erreichen. Wenn wir jetzt aufsteigen, wäre das für mich das Happy End dieser Geschichte.“
Info
Dieses Portrait über Sasa Kalajdzic ist erstmals in der stadion aktuell zum Heimspiel gegen den SV Sandhausen am 17. Juni erschienen. Der Stürmer gab in dieser Partie sein Startelfdebüt im Trikot mit dem roten Brustring, war bis zur 70. Minute mit von der Partie und half dabei mit, dass sich der VfB deutlich mit 5:1 durchsetzte. Nur wenige Tage später beim Auswärtsspiel in Nürnberg erzielte Sasa Kalajdzic sein erstes Pflichtspieltor für den VfB und bereitete beim 6:0 einen weiteren Treffer vor. An diesem Dienstag, 7. Juli, feiert der Österreicher seine 23. Geburtstag.