Im Sommer 2018 erlebte Wataru Endo die ganze Bandbreite an Emotionen. Wie in fast jeder Fußballkarriere gibt es auch für den 27-Jährigen immer wieder Höhepunkte und Rückschläge, glanzvolle Momente und bittere Erfahrungen. In jenem Sommer sollten zwischen Euphorie, Frust und neuem Elan allerdings nur wenige Tage liegen. Zunächst reiste er hoffnungsvoll mit dem japanischen Nationalteam zur Fußball-Weltmeisterschaft. Die Titelkämpfe in Russland sollten für ihn zu einem Glanzpunkt seiner Karriere werden. Immerhin war er bis dahin bereits zwölfmal für die Nationalmannschaft auf dem Rasen gestanden. Zwar nur ein paar Mal über 90 Minuten, dennoch rechnete er sich bei der WM den einen oder anderen Einsatz aus. Dazu sollte es allerdings nicht kommen. Weder in den drei Vorrundenspielen, noch im Achtelfinale durfte er ran.
Doch so bitter das für ihn war, die Enttäuschung darüber wich schon bald neuer Euphorie. Denn kurz nach dem Ende der WM stand fest: Wataru Endo wechselt zum belgischen Erstligisten VV St. Truiden. Ein Schritt, den er sich so sehnlichst gewünscht hatte. Und ein Ziel, auf das er jahrelang hart hingearbeitet hatte. „Es war schon lange mein Wunsch, eines Tages in Europa Fußball zu spielen. Im Grunde spielen alle Stammspieler der japanischen Nationalmannschaft in Europa. Daher dachte ich mir schon seit längerem, dass ich nach Europa muss, wenn ich im Nationalteam in die Startelf möchte, weil es dort für meine fußballerische Entwicklung besser ist“, sagt er, „als dann dieses Angebot kam, dauerte es keine zehn Minuten, bis ich mich entschieden hatte.“ Doch so sehr Wataru Endo auf diesen Wechsel brannte, so groß die Chance, die damit einherging, für ihn im sportlichen Bereich war – der Schritt nach Europa wurde für ihn zunächst zu einer echten Belastungsprobe.
Mit dem Schritt nach Europa begann eine Zeit der Entbehrung
Als sich Wataru Endo im Sommer 2018 VV St. Truiden anschloss, begann für ihn eine Zeit der Entbehrung. Weil seine Frau damals schwanger war und die drei Kinder, die sie bereits hatten, auch noch nicht wirklich alt waren, entschieden seine Frau und er, dass sie mit den Kindern in Japan bleibt. Dass sie Sohn Nummer drei lieber im gewohnten Umfeld in der Nähe ihrer Familien und nicht fernab der Heimat in einem fremden Land, wo sie noch nie gelebt hatten und dessen Sprache sie nicht konnten, zur Welt bringt. Und so lebte Wataru Endo die ersten elf Monate in Belgien alleine. Seine Familie sah er in dieser Zeit lediglich ein paar Mal für wenige Tage am Rande der Reisen zur Nationalmannschaft. Ansonsten blieb nur der Kontakt via Videokonferenz, was angesichts des Zeitunterschieds eine gewisse Herausforderung darstellte. „Natürlich war es hart, meine Familie wochenlang nicht treffen zu können“, blickt er zurück, „aber ich hatte trotzdem in Belgien auch eine gute Zeit. Fußballerisch hat mir dieses Jahr viel geholfen.“
So viel, dass er bei seinem neuen Verein schnell zum Stammteam gehörte und fortan auch in der Nationalmannschaft eine gewichtige Rolle spielte. Nicht zuletzt bei der Asienmeisterschaft im Januar 2019. Doch so toll dieses Turnier für ihn begann, mit viel Einsatzzeit und einem Sieg nach dem anderen des japanischen Teams, es endete auf ganz bittere Weise. Denn im Halbfinale gegen den Iran erlitt er bei einer alltäglichen Bewegung, bei einem schnellen Schritt zum Ball eine Muskelverletzung im Oberschenkel. Die tragische Folge: Er verpasste das Finale und fiel anschließend zwei Monate aus.
Sonderschichten für den Traum vom Fußballprofi
Die Verletzung hat er längst als einen Teil seiner Geschichte abgehakt. Weil Wataru Endo ohnehin ein Kämpfer ist, der sich nicht so schnell unterkriegen lässt. Und weil sich die Verletzung auch nicht weiter negativ auf seine Laufbahn auswirken sollte. Nach seiner Genesung war er im Verein gleich wieder ein fester Bestandteil der ersten Elf. Und als dann im Juni des vergangenen Jahres seine Frau mit den vier Kindern nach Belgien zog, war das Glück perfekt. Im Sommer 2019 lebte Wataru Endo das Leben, das er sich als kleiner Bub ausmalte. Damals, als er das erste Mal mit seinem Vater zu einem Fußballspiel des japanischen Erstligisten Yokohama F. Marinos gegangen war und danach ein begeisterter Fußballfan war. Ein Leben, für das er in all den Jahren danach so hart schuftete.
Zum Beispiel in den Jahren, als er in seiner Heimatstadt im Großraum Yokohama die Grundschule von Minami-totsuka besuchte und dort für die Schulmannschaft spielte. Während andere Kinder nach der Schule die Freizeit genossen, nahm er zweimal die Woche abends sowie samstags und sonntags am Fußballtraining teil. Und damit nicht genug. Parallel dazu trainierte er zweimal pro Woche noch bei einer Futsalmannschaft mit, um in Sachen Techniktraining Sonderschichten einzulegen. Als Wataru Endo ein wenig älter wurde, änderte sich zwar die Schulform, sein Alltag als Spieler des Schulteams der Junior High School von Minami-totsuka blieb aber der gleiche. „Ich bin früher sehr oft mit meinem Vater zu den Spielen von Yokohama F. Marinos und wollte unbedingt eines Tages Fußballprofi bei ihnen sein“, erzählt er.
Vom Nachwuchs- zum Stammspieler
Dieser Wunsch erfüllte sich allerdings nie. Als Teenager absolvierte Wataru Endo zwar mal einen Sichtungstag beim japanischen Proficlub aus seiner Heimat, verpflichtet wurde er danach aber nicht. Dafür sollte sich sein Traum vom Fußballprofi an anderer Stelle erfüllen – und ihm im Laufe der Jahre noch glanzvollere Momente als den reinen Alltag in Japans Eliteliga bescheren. Bei einem der Turniere mit der Schulmannschaft entdeckten ihn die Scouts des Profivereins Shonan Bellmare und unterbreiteten ihm ein Angebot. Es waren zwar nicht die Yokohama F. Marinos, dafür bedeutete es trotzdem eine riesige Chance für ihn. Und so machte er sich fortan sechsmal die Woche mit seinem Fahrrad zuhause auf den Weg zur Bahnstation, stieg dort in den Zug ein, um 30 Minuten später am Zielort wieder mit dem Rad zum Trainingsgelände zu fahren. Damals war Wataru Endo 16 Jahre alt.
Etwas mehr als ein Jahr später gab er bereits sein Profidebüt. Am Ende jener Saison stieg seine Mannschaft zwar als Tabellenletzter ab, für das junge, aufstrebende Talent sollte das aber nicht unbedingt von Nachteil sein. „Für meine persönliche Entwicklung hatte es auch etwas Gutes, dass ich dann meine erste komplette Profisaison bei einem Zweitligisten hatte“, verdeutlicht er, „dadurch war ich schon in jungen Jahren Stammspieler und habe gleich sehr viel Spielzeit im Profifußball bekommen.“ Und an Erfolgserlebnissen sollte es auch nicht mangeln. Bei Shonan Bellmare entwickelte sich Wataru Endo so prächtig, dass er ab der U17 in allen Altersklassen den japanischen Nationalteams angehörte und 2015 gar sein Debüt in der A-Nationalmannschaft gab. Zudem stieg er in den mehr als fünf Jahren bei Shonan Bellmare, das zu jener Zeit immer wieder auf- und abstieg, mit dem Verein gleich zweimal in die erste Liga auf.
Erste Titel und der Durst nach mehr
Die beiden Aufstiege sind aber bei weitem nicht die wertvollsten Erfolge in der Vita von Wataru Endo. 2016 verpflichtete ihn der japanische Spitzenclub Urawa Red Diamonds. Auch dort avancierte er schnell zum Stammspieler und gewann mit dem Verein 2017 die asiatische Champions League. „Das Hin- und das Rückspiel im Finale gegen den saudi-arabischen Club Al-Hilal waren die beiden größten Matches meiner bisherigen Karriere“, schwärmt er, „wir haben beide Male vor knapp 60.000 Fans in einer wahnsinnig stimmungsvollen Atmosphäre und einem glanzvollen Ambiente gespielt, ich habe in beiden Partien durchgespielt – und wir haben uns am Ende den Titel geholt.“
Doch so bedeutend dieser Titelgewinn, so emotional die Erlebnisse bei den Finalspielen für ihn waren und so hilfreich die Zeit bei den Urawa Red Diamonds für ihn auf dem Weg nach oben war, Wataru Endo wäre nicht Wataru Endo, wenn er sich darauf ausgeruht, einfach mal sein Alltagsleben genossen, zurückgelehnt und seine ursprünglichen Ziele aus den Augen verloren hätte: Stammspieler in der Nationalmannschaft zu werden und im europäischen Fußball Fuß zu fassen.
Bereit, Umwege zu gehen
Im Sommer 2019 hatte er nach einem Jahr bei VV St. Truiden diese beiden Ziele erreicht. Also steckte er sich ein neues: in einer der europäischen Topligen Fuß fassen. Und auch das verfolgt Wataru Endo wieder so hartnäckig, dass er bereit ist, dafür erneut einen Umweg zu gehen. Dieser führte ihn Mitte August zum VfB. „Ich verfolge die Bundesliga schon seit vielen Jahren und möchte eines Tages dort spielen. Daher bin ich überzeugt, dass dieser Wechsel für meine Entwicklung besser und der richtige Schritt ist“, sagt er. Doch auch zu Beginn dieses Abschnitts musste Wataru Endo wieder zeigen, dass er nicht nur auf dem Fußballplatz großes Potenzial besitzt, sondern auch abseits des Rasens trotz mancher Unwägbarkeit besteht.
Dabei erwies sich der Start in einem neuen Land als die weniger große Herausforderung. Einige wertvolle Tipps des japanischen Ex-VfB Profis Takuma Asano, mit dem er rund um seinen Wechsel zum VfB mehrmals gesprochen hatte, erleichterten ihm den Start in Stuttgart. So zog er beispielsweise nach Stuttgart-Möhringen, wo es in der Nähe eine internationale Schule gibt und wo auch mehrere japanische Familien in der Umgebung wohnen. Zudem steht Yusaburo Matsuoka, der beim VfB Torwarttrainer der U14 und U15 ist, aus Japan stammt und seit einigen Jahren in Deutschland lebt, mit Rat und Tat zur Seite und unterstützt die Endos, wo es nur geht. Seine Familie fühlte sich daher von Anfang an wohl in Stuttgart.
Beharrlich geblieben und in die Bundesliga aufgestiegen
Wataru Endo:
Ich habe mich nicht aufgegeben. Ich habe mir immer gesagt, dass ich irgendwann meine Chance bekommen werde, wenn ich in jedem Training mein Bestes gebe. Dadurch habe ich mir immer eine positive Einstellung bewahrt. Meine Familie und Mario Gomez, der mir oft Mut zugesprochen hat, haben mir dabei sehr geholfen.
Die viel größere Herausforderung war für Wataru Endo seine Rolle in der Mannschaft. War er bei den ersten drei Saisonspielen von VV St. Truiden Ende Juli und Anfang August noch jeweils auf dem Platz gestanden, saß er nach seinem Wechsel beim Verein mit dem Brustring erst einmal nur auf der Bank oder gehörte gar nicht zum Kader. „Der Beginn in Stuttgart war für mich eine harte Zeit, weil ich in Belgien immer gespielt hatte und hier nicht zum Einsatz kam“, sagt er, „aber ich habe mich nicht aufgegeben. Ich habe mir immer gesagt, dass ich irgendwann meine Chance bekommen werde, wenn ich in jedem Training mein Bestes gebe. Dadurch habe ich mir immer eine positive Einstellung bewahrt. Meine Familie und Mario Gomez, der mir oft Mut zugesprochen hat, haben mir dabei sehr geholfen.“ Sein Durchhaltewillen und sein Kampfgeist zahlten sich aus.
Anfang November kam es zum Debüt im VfB Trikot, die letzten fünf Spiele vor der Winterpause absolvierte er über die kompletten 90 Minuten. Und bei seinem vorletzten Einsatz im japanischen Trikot erzielte er im Oktober gar seinen ersten Länderspieltreffer. „Das war ein schöner Moment, jetzt fehlt nur noch mein erstes Tor für den VfB“, sagt Wataru Endo und lacht dabei. Der Defensivspezialist meint das zwar durchaus ernst, doch seine primäre Aufgabe ist eine andere. Und so wird in diesem Moment deutlich, wie entspannt Wataru Endo im Januar 2020 angesichts des Zustands seiner Fußballkarriere ist. Wie sehr sich in den vergangenen Wochen für ihn alles zum Positiven gewendet hat. „Nun ist alles gut. Ich spiele in Stuttgart und im Nationalteam“, sagt er, „nun werde ich weiter hart arbeiten, um meine nächsten beiden großen Ziele zu erreichen: der Aufstieg mit dem VfB und die Qualifikation für die WM in Katar.“
Info
Dieses Portrait über Wataru Endo ist erstmals am 28. Januar in der stadion aktuell zum Heimspielauftakt des Jahres gegen den 1. FC Heidenheim erschienen. Seit seinem Startelfdebüt beim 3:0-Derbysieg gegen Karlsruhe am 14. Spieltag bestritt der 27-jährige Mittelfeldspieler bis auf eine Gelbsperre 21 aller 22 Pflichtspiele über die volle Distanz und leitete beim 3:2-Heimsieg gegen Hamburg mit seinem ersten Tor für den VfB die Aufholjagd im Kampf um den Aufstieg ein.